Zeit für einen #SchweizerAufschrei

Unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei teilen seit einigen Tagen Schweizer*innen ihre Erfahrungen mit Sexismus und sexueller Belästigung. aktivistin.ch unterstützt die Aktion und den damit angeregten Diskurs. 


Text: Jessica

Ich bin 6. Meine Freundin und ich spielen im Park. Zwischen den Bäumen steht ein Mann mit herunter gelassener Hose. Wir finden das wahnsinnig komisch, wir glauben, der Mann hätte nach dem Toiletten-Besuch vergessen, seine Hose hoch zu ziehen – wie peinlich für ihn. Als wir es später unseren Eltern erzählen, verstehen wir ihre Aufgebrachtheit nicht.

Ich bin 12. Im Freibad tauche ich durch die Wellen, als mich eine Hand am Knöchel packt. Ich denke zuerst, es sei mein Vater, wir haben immer wild gespielt. Doch die Hand hält mich fest, tastet sich meinem Bein entlang nach oben – Papa?! Ich reisse mich los und tauche auf. Sehe meinen Vater weit entfernt am Beckenrand stehen. Erschrocken drehe ich mich um und sehe einen jungen Mann zwischen den Wellen wegtauchen. Ich steige aus dem Wasser und schliesse mich erstmal in der Toilette ein. Dort sitze ich und denke, so, nun es ist also passiert, du wurdest soeben sexuell belästigt. Den Ausdruck kenne ich aus den Broschüren, die wir in der Schule erhalten. In denen steht auch, man soll nicht mit fremdem Männern mitgehen und es immer den Eltern erzählen, wenn etwas passiert. Das sollte ich nun also tun, es meinen Eltern erzählen. Ich stelle mir vor, wie sie mich dabei ansehen. Wie traurig sie wären. Das würde ich nicht ertragen. Ich sage nichts.

Ich bin 14. Zum ersten Mal darf ich mit meinen Freundinnen an die Streetparade. Mehrere Männer spritzen uns mit Wasserpistolen gezielt auf die Brüste und zwischen die Beine. Einer versucht mein Oberteil zu öffnen.

Ich bin 17. Ich bin ziemlich dünn und habe kleine Brüste. Mein Freund erzählt mir, dass Kollegen ihn gefragt haben, wie es denn so sei „auf einem Knochengerüst herum zu turnen“.

Ich bin 21. Ich spaziere am Nachmittag durch mein Quartier. Als ich eine Gruppe junger Männer passiere, rufen sie mir zu, ob ich ihnen einen Blasen würde. Sie laufen mir bis zu meiner Haustüre hinterher und schreien Anzüglichkeiten.

Ich bin 25. Das Restaurant, in dem ich arbeite, schliesst bald, alle Gäste sind schon weg. Während ich hinter dem Tresen aufräume, kommt ein älterer Mann hinein und bestellt ein letztes Bier. Er beginnt von seinen Wanderungen zu erzählen, will mir Bilder zeigen. Ich schaue auf seinen Handy-Display. Bilder von Bergen und Wäldern. Dann plötzlich das Foto eines erigierten Penis. Hoppla, das muss wohl aus Versehen da rein geraten sein, entschuldigt sich der Mann. Es geht weiter. Felder, Wiesen, Penis. Oh, Entschuldigung. Bäume, Seen, Penis. Das tut mir aber leid. Das geht noch ein paar Mal so weiter, bis ich begreife, dass das kein Zufall sein kann. Mit einem Vorwand verschwinde ich nach hinten und lasse meinen Chef das Restaurant schliessen.

Ich bin 28. Wir feiern bei einer Freundin zu Hause eine grosse Party. Irgendwann entdecken wir auf der Toilette eine versteckte Kamera. Es stellt sich heraus, dass ein langjähriger Freund sie dort installiert hat.

Ich bin 30. Mit dem feministischen Kollektiv aktivistin.ch setze ich mich für Gleichberechtigung ein. An uns gerichtete Online-Kommentare reichen von Beleidigungen über sexistischen Sprüchen bis hin zu handfesten Mord- und Vergewaltigungsandrohungen.

Das ist nur ein Auszug aus dem Sexismus und den sexuellen Belästigungen, die ich in meinem Leben schon erfahren habe. Nicht zu vergessen all die Sprüche, die mir auf der Strasse nachgerufen wurden, all die Grabschereien in Clubs, all die Autos, die verdächtig langsam geworden sind. Das sind meine Erlebnisse. Doch es sind gleichzeitig auch die Erlebnisse meiner Freundinnen, meiner Mutter, meiner Arbeitskolleginnen. Jede Frau*, mit der ich je darüber gesprochen habe, hat schon Sexismus und sexuelle Belästigung erlebt. Viele haben Ähnliches erlebt. Einige haben Schlimmeres erlebt. Wir erleben es bei der Arbeit und im Ausgang, im öffentlichen Raum und in der eigenen Familie. Wir erleben es so häufig, dass es Teil unserer Normalität wird. Es ist so normal für uns geworden, dass wir oftmals nicht mehr darüber sprechen. Das muss aufhören. Wir müssen darüber reden. Mit unseren Freundinnen, unseren Müttern und unseren Töchtern. Und wir müssen mit den Männern reden. Mit unseren Freunden und Partnern, unseren Vätern und unseren Söhnen.

Aber vor allem müssen wir mit der Gesellschaft reden. Eine Gesellschaft, die Sexismus duldet und nicht sanktioniert. Eine Gesellschaft, die die Schuld oftmals bei den Opfern statt bei den Tätern sucht. Eine Gesellschaft, die mit ihren Töchtern anders umgeht als mit ihren Söhnen.

Es ist Zeit für einen #SchweizerAufschrei.